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wieder dasein.
Auszug aus Marias Tagebuch, an dem Abend geschrieben, als
sie den Eisenbahnwaggon geschenkt bekam:
Das tiefe Begehren, das realste Begehren ist dann in einem,
wenn man zum ersten Mal auf jemanden zugeht. Das löst das
Knistern aus. Danach erst kommen Mann und Frau ins Spiel.
Aber das, was zuvor geschah - was die gegenseitige Anziehung
auslöste -, kann man nicht erklären. Es ist das Begehren in
seiner ursprünglichen, reinsten Form.
Wenn das Begehren in diesem ursprünglichen Zustand ist,
verlieben sich Mann und Frau in das Leben, kosten sie jeden
Augenblick ehrfürchtig und ganz bewußt aus und feiern jeden
dieser Augenblicke wie eine Segnung.
Solche Menschen kennen keine Eile, sie überstürzen nichts,
tun nichts Unbedachtes. Sie wissen, daß das Unausweichliche
geschieht, daß die Wahrheit immer wirksam wird. Sie packen
jede Gelegenheit beim Schopf und lassen keinen magischen
Augenblick ungenutzt verstreichen, weil sie wissen, wie wichtig
jede einzelne Sekunde ist.
In den darauffolgenden Tagen sah Maria, daß sie in die Falle
gegangen war, die sie so sehr zu meiden versucht hatte - aber sie
war deswegen weder traurig noch besorgt.
Im Gegenteil: Da sie nichts zu verlieren hatte, war sie frei.
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So romantisch die Situation auch war: Maria mußte sich im
klaren sein, daß Ralf früher oder später einsehen würde, daß sie
nur eine Hure, er dagegen ein geachteter Künstler war; daß sie
aus einem fernen, ewig krisengeschüttelten Land kam, er
dagegen in einem Paradies lebte, dessen Bewohner von Geburt
an ein geordnetes, geschütztes Leben führen durften. Er hatte
eine hervorragende Ausbildung genossen, die allerbesten
Schulen und Museen der Welt besucht, während sie nicht
studiert hatte. Solche Träume sind nicht von Dauer, und Maria
wußte aus eigener Erfahrung, daß die Wirklichkeit selten mit
ihren Träumen übereinstimmte. Ihre größte Freude war jetzt,
daß sie wunschlos glücklich sein konnte und nicht danach
strebte, jemanden zu besitzen.
: Wie romantisch ich bin, mein Gott!9
Während der Woche versuchte sie herauszufinden, was Ralf
glücklich machen könnte; er hatte ihr ihr : Licht9 gezeigt und ihr
ihre, wie sie glaubte, für immer verlorene Würde
zurückgegeben. Sie würde sich bei ihm nur mit Sex
revanchieren können. Er hielt es für ihre Spezialität. Da aber
Sex im : Copacabana9 wenig Abwechslung bot, beschloß sie,
sich anderswo inspirieren zu lassen.
Sie lieh sich Pornofilme aus und fand sie erneut
uninspirierend - außer einigen Varianten beim Gruppensex. Da
die Filme wenig weiterhalfen, beschloß sie zum ersten Mal, seit
sie in Genf war, Bücher zu kaufen - obwohl sie weiterhin keine
Lust hatte, ihre Wohnung mit ausgelesenen Büchern
vollzustopfen. In einer Buchhandlung, die sie entdeckt hatte, als
sie mit Ralf auf dem Jakobsweg gegangen war, erkundigte sie
sich, ob sie etwas zum Thema dahatten.
»Massenhaft«, antwortete die Buchhändlerin. »Tatsächlich
scheinen sich die Leute nur mit Sex zu beschäftigen. Es gibt
eine Spezialabteilung, aber letztlich enthält jeder dieser Romane
hier mindestens eine Sexszene. Ob sie nun in schönen
Liebesgeschichten eingebettet ist oder in ernsthaften Traktaten
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über Verhaltensforschung, Tatsache ist: Die Menschen denken
an nichts anderes.«
Maria wußte aus eigener Erfahrung, daß sich die
Buchhändlerin irrte: Es war falsch zu glauben, daß alle Welt nur
an diesem Thema interessiert war. Natürlich machten alle
Diäten, kauften sich Perücken, verbrachten Stunden beim
Friseur oder im Fitneßstudio, trugen aufreizende Kleider,
versuchten den gewünschten Funken zu entfachen - aber was
kam dabei heraus? Wenn's zur Sache ging: elf Minuten, Schluß,
aus. Keine Kreativität, nichts, was sie in den siebten Himmel
erhob; in Null Komma nichts war der Funke schon zu schwach,
um das Feuer am Brennen zu halten.
Es war zwecklos, mit der blonden Buchhändlerin
weiterzudiskutieren, die glaubte, die Welt könne mit Büchern
erklärt werden. Maria ließ sich die Spezialabteilung zeigen und
entdeckte dort verschiedene Bände über homosexuelle und
lesbische Sexpraktiken, außerdem Enthüllungsgeschichten über
das Sexleben des Klerus sowie reichbebilderte Sexfibeln aus
dem Orient. Ein Buchtitel stach ihr ins Auge: Der heilige Sex.
Das war zumindest mal etwas anderes.
Sie kaufte das Buch, ging nach Hause, stellte das Radio auf
einen Sender mit ruhiger Musik ein, die ihr immer beim
Nachdenken half. Der Band enthielt zahlreiche Illustrationen
von Liebesstellungen, die bestimmt höchstens von
Zirkusakrobaten ausgeführt werden konnten; der dazugehörige
Text war langweilig.
Maria wußte von Berufs wegen nur zu gut, daß beim Sex
nicht allein die Stellung, die man einnimmt, wichtig war und
daß Variationen sich wie selbstverständlich ergaben, ähnlich wie
Tanzschritte. Dennoch versuchte sie weiterzulesen.
Nach zwei Stunden war ihr klar: Die Autorin des Buches hatte
vom Sex keine Ahnung: nichts als viel Theorie, ein bißchen
Kamasutra, nutzlose Rituale, idiotische Vorschläge. Aus dem
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Klappentext ging hervor, daß die Autorin im Himalaja meditiert
hatte (wo denn?), Joga-Kurse besucht (davon hatte Maria schon
gehört) und selbst viele Bücher gewälzt hatte: Sie zitierte den
einen oder andern Autor, aber zum Wesentlichen war sie nicht
vorgestoßen. Sex war keine Theorie, hatte nichts mit
Räucherstäbchen, Berührungspunkten, Verbeugungen und
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